Wer E sagt, muss auch U sagen – Über die Verträge von Lissabon Teil II: Wie sie wurden was sie sind


Wer E sagt, muss auch U sagen – Über die Verträge von Lissabon

Teil II: Wie sie wurden was sie sind





Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen
lässt, dass ihr Heil nicht in neuen Maßnahmen, sondern in neuen
Gesinnungen besteht.
Albert Schweitzer




Auch wenn man in der Berichterstattung der letzten Zeit – vor allem vor und nach der Wahl zum Europäischen Parlaments 2009 – den Eindruck gewinnen konnte, die Gegner des Europäischen Integrationsprozesses hätten sich formiert und viel an Stärke gewonnen (was auch im Wahlergebnis seinen Niederschlag fand), bin ich dennoch davon überzeugt, dass eine ganz überwiegende Mehrheit die Europäische
Integration grundsätzlich bejaht; lediglich eine niedrige Wahlbeteiligung konnte ein solches Ergebnis erzeugen. Die niedrige Wahlbeteiligung aber, hat natürlich ebenfalls eine Ursache. Diese Ursache liegt einerseits darin, dass die Politik willentlich darauf verzichtet hat, eine breite Mehrheit der Europäerinnen und Europäer an diesem Integrationsprozess zu beteiligen und sie dafür zu gewinnen, diesen Prozess zu unterstützen.



Was ist da schiefgelaufen? Von den Ausnahmen abgesehen in denen Menschen Dinge dauerhaft unterstützen zu denen sie verführt wurden und die eigentlich nicht in ihren ureigensten Interesse liegen, kommt es darauf an, dass die Menschen das für sie Nützliche an diesem Prozess erkennen können. Damit sie mitmachen müssen Menschen im Ergebnis ihre Interessen dauerhaft gewahrt sehen. Dazu bedarf es konkrete Antworten auf die sozialen, ökologischen und demokratischen Fragen, welchen sich die Menschen tatsächlich gegenübergestellt sehen. Wer versucht im stillen Kämmerlein Politik für 500 Millionen Menschen machen zu können und dann auch noch ungeteilte Zustimmung erwartet, ist nicht ganz bei Trost. Obwohl… vielleicht klappt es ja doch noch (was ich mir NICHT wünsche).



Wie dem auch sei, in Gesprächen, Diskussionen und – sehr extrem – in Forenbeiträgen wird auf diese Verträge eingeschlagen was das Zeug hält… ohne dass ich den Eindruck habe, die Schelte sei sonderlich begründet; will sagen, die meisten wissen nicht wovon sie eigentlich reden. Dass ich ein überzeugter Europäer ebenso bin wie ein politischer Gegner der Verträge ist bekannt; wiewohl es mir einleuchtet, dass das auf den ersten Blick paradox klingen mag. Doch man kann durchaus ein überzeugter Europäer sein und es dennoch nicht wollen, dass der EU-Grundlagenvertrag in Kraft gesetzt wird… nämlich dann, wenn einem die politischen Paradigmen mit denen da operiert wird – wenn der Geist des Vertrages – nicht mit den sonstigen persönlichen politischen Positionen übereinstimmt.



Der Vertrag von Lissabon



Wie ich im Teil I schon ausführte, war nach den – den Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) ablehnenden – Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, der VVE insgesamt gescheitert. Eineinhalb Jahre arbeiteten Politiker hinter den Kulissen (besser gesagt: ohne öffentlichen Aufhebens) daran, wie man weiter verfahren könnte und es war das erklärte Ziel der deutschen  Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007, den Prozess wieder in Gang zu bringen. Das gelang. Der Europäische Rat wurde davon überzeugt, einen Fahrplan zu verabschieden, nach dem der Reformprozess fortgesetzt wurde. Ein Grund für die Ablehnung des VVE in Frankreich war, dass die Franzosen mit dem Wort Verfassung mehr verbinden, als einen technokratischen Vertrag. Wie auch immer man in die Richtung des VVE weitergehen wollte, Verfassung durfte da nicht mehr draufstehen; die Franzosen – hatte man die Angst – würden wieder ablehnen.



Deswegen durfte im Folgenden niemand mehr das Wort Verfassung in den Mund nehmen; was ich außerordentlich bedauerte. So wurde der Arbeitstitel für das zu erstellende Vertragswerk „EU-Grundlagenvertrag“ und später „EU-Reformvertrag“; Reform… das klingt so gut. Der Vertrag, der den abgelehnten VVE ersetzen sollte, soll die bestehenden völkerrechtlichen Vertragsgrundlagen des europäischen Integrationsverbandes (EG- und EU-Vertrag) ändern. Insbesondere sollte die Union eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit erhalten. Voraussetzung: alle 27 Mitgliedstaaten müssen den Vertrag ratifizieren.



Alter Wein in neuen Schläuchen – mit kleinen Änderungen



Die Grundzüge des Vertrags von Lissabon wurden vom Europäischen Rat während der deutschen Ratspräsidentschaft auf dem Gipfel am 21. und 22. Juni 2007 in Brüssel beschlossen. Der Europäische Rat legte sie im Mandat an die Regierungskonferenz nieder, die daraufhin den definitiven Vertragstext ausarbeitete. Im Rahmen der Regierungskonferenz, die am 23. Juli 2007 ihre Arbeit aufnahm, wurde ein Entwurf ausgearbeitet, der 145 Seiten Vertragstext sowie 132 Seiten mit 12 Protokollen und 51 Erklärungen umfasste. Das Ganze war eigentlich nur Polit-Show, denn der Vertrag von Lissabon weicht nur in wenigen Punkten vom Entwurf
des VVE ab.



Wie oben schon kurz erwähnt war die auffälligste Veränderung die Streichung des Begriffs „Verfassung“; damit sollte der Forderung nach nationalen Referenden die Grundlage entzogenen werden. Inhaltlich übernimmt der Vertrag von Lissabon jedoch die Kompetenzenverteilung, wie sie in der Verfassung vorgesehen war. Die traditionelle Struktur eines Grundvertrags (bei dem es sich um eine Modifizierung des
bisherigen EG-Vertrags handelt, der nun Vertrag über die Arbeitsweise der EU, kurz AEUV, heißen wird) und eines gleichrangigen Vertrags, des EU-Vertrags, der den supranationalen AEU-Vertrag mit den intergouvernementalen Politiken verklammert, blieb unangetastet.



Eine weitere „auffällige“ Änderung gegenüber dem VVE, ist der Verzicht auf staatstypische Symbole wie Flagge und Hymne. Diese symbolische Veränderung sollte die Befürchtungen ausräumen, die EU solle durch die Verfassung zu einem neuen „Superstaat“ werden. In der Praxis wird sich am Gebrauch der Symbole jedoch nichts verändern, da diese auch bisher verwendet wurden, ohne dass es dafür eine ausdrückliche vertragliche Grundlage gab. Ähnlich wie die staatstypischen Symbole wurden auch die staatstypischen Bezeichnungen wieder zurückgenommen, die im VVE vorgesehen waren; z.B. der „Außenminister der Union“ wurde in Hoher
Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik umbenannt (die Befugnisse des vom des VVE vorgesehenen Außenministers aber beibehalten) oder statt „Europäischer Gesetze“ erlässt die EU weiterhin Verordnungen, statt „Europäischer Rahmengesetze“ weiterhin Richtlinien.

Eine weitere Änderung: Anders als im VVE wird der Text der Europäischen Charta der Grundrechte nicht im Vertrag enthalten sein; sie wird lediglich durch einen Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV für die meisten Länder als rechtsverbindlich erklärt. Großbritannien und Polen (möglicherweise auch Irland) haben eine Ausnahme ausgehandelt, sodass die Grundrechtecharta vor britischen und polnischen Gerichten keinen Rechtsschutz gewähren wird. Das Europäische Parlament hält
diese Ausnahmeregelungen „für einen dramatischen Rückschlag und eine schwere Beschädigung des innersten Selbstverständnisses der Europäischen Union…“



Ursprünglich sah der Vertrag von Lissabon, ebenso wie der VVE, eine Verkleinerung der Europäischen Kommission vor, in der künftig nicht mehr jedes Land einen eigenen Kommissar stellen sollte. Diese Maßnahme stieß vor allem bei einigen kleineren Ländern auf Kritik und gilt als einer der Gründe, weshalb das erste Referendum in Irland scheiterte. Daher beschloss der Europäische Rat im Dezember 2008, die Verkleinerung der Kommission nicht in Kraft treten zu lassen. Diese Modifizierung des Vertrags von Lissabon erfordert jedoch eine erneute Vertragsänderung, die ihrerseits von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden müsste. Dies könnte im Zuge der Vertragsanpassungen geschehen, die für den EU-Beitritt Kroatiens notwendig sind, welcher für 2010 oder 2011 erwartet wird.



Die Liste der Themen, über die vom Rat der EU mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann, wird – wie im VVE vorgesehen – erweitert, aber die Einführung des dort enthaltenen Abstimmungsverfahrens der doppelten Mehrheit wird auf 2014 verschoben und soll erst 2017 uneingeschränkt gelten. Ab 2014 wurde ein erweiterter Minderheitenschutz – sog. Kompromiss von Ioannina vereinbart. Demnach können die „kleinen Länder“ nicht einfach „platt gestimmt“ werden, sondern sie können nach einem gewissen Schlüssel eine Sperrminorität ausüben und so erzwingen, dass die Verhandlungen im Rat für eine „angemessene Frist“ fortgesetzt werden.



Weitgehend unbeachtet von Medien und Öffentlichkeit wurden im Vertrag – gegenüber dem VVE – auch Ergänzungen vorgenommen. So wird die Bekämpfung des Klimawandels erstmals als ausdrückliches Ziel im Primärrecht erwähnt. Zudem werden an mehreren Stellen Vertragsklauseln zur Energiesolidarität eingefügt.



Auf dem Weg ins Nichts



Beim EU-Gipfel in Lissabon am 18. und 19. Oktober 2007 einigten sich die Staats- und Regierungschefs schließlich auf den endgültigen Vertragstext, wobei noch einmal Änderungswünsche der Vertreter von Italien und Polen berücksichtigt wurden. Der Vertrag ist am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet worden. Am 20. Februar 2008 sprach sich das Europäische Parlament für den Vertrag aus. Es handelt sich aber nur um eine symbolische Entscheidung, denn die Europäische
Union gehört selbst nicht zu den Vertragsparteien und nahm so am Verfahren der Vertragsänderung nicht Teil. Ursprünglich sollte der Vertrag am 1. Januar 2009 in Kraft treten; bis Ende des Jahres 2008 sollten ihn alle 27 Mitgliedstaaten nach ihren
verfassungsrechtlichen Vorgaben ratifiziert haben. Wie gesagt, da nun nicht mehr Verfassung im Titel stand, meinten die Regierungen fast aller Mitgliedsstaaten, nun keine Volksabstimmungen mehr durchführen zu müssen; in den meisten EU-Staaten stimmten die Parlamente bis Herbst 2008 ab; lediglich Irland führte ein solches Referendum durch, dessen Ergebnis am 12. Juni 2008 eine Ablehnung brachte. Nicht nur, dass nun der geplante Zeitplan nun nicht mehr einzuhalten war… damit war der Vertrag eigentlich Makulatur.



Nach der ersten Schockstarre derer die da glaubten, den Vertrag in genau dieser Fassung haben zu müssen und demzufolge mit diesem „Irischen Ergebnis“ nun gar nicht leben konnten, griff man zu dem Trick, nach ein paar Zugeständnissen an die Iren, die Abstimmung wiederholen zu lassen. Eine weitere Änderung betraf den Vertrag selbst… er soll nunmehr „am ersten Tag des auf die Hinterlegung der
letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats“ in Kraft treten (Art. 54 Abs. 2 EUV-Lissabon).



Aber nicht nur in Irland gibt es Probleme. In Polen und in der Tschechischen Republik fehlen bislang noch die Unterschriften des Staatspräsidenten unter das Ratifikationsgesetz. In Deutschland ist der Vertrag auch noch nicht ratifiziert (die Unterschrift des Bundespräsidenten fehlt wegen des am Bundesverfassungsgericht
anhängigen Verfahrens). Am 30. Juni 2009 hat das Bundesverfassungsgericht zwar die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit des Vertrages bejaht, aber ein neues Begleitgesetz gefordert. Das deutsche Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon verstoße gegen Art.38 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages und des Bundesrates nicht im erforderlichen Umfang ausgestaltet worden seien.



Das BverfG führte aus, die europäische Vereinigung dürfe nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedsstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibe. Dies gelte insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum prägten, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle,
historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen seien, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten würden.



Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben bereits angekündigt, dass das Ausführungsgesetz rechtzeitig im Sinne des Urteils umgesetzt wird. Der Vertrag wird voraussichtlich im September durch die Unterschrift des Bundespräsidenten ratifiziert werden. Abgeschlossen ist der Ratifizierungsprozess jedoch erst wenn die Ratifizierungsurkunde mit der Unterschrift des jeweiligen Staatsoberhauptes bei der italienischen Regierung hinterlegt ist.



Außer Spesen nichts gewesen



Wie bereits bei dem geplanten VVE war die gesamteuropäische Debatte über den Vertrag von Lissabon nur schwach ausgeprägt. Dazu mag eine gewisse Ermüdung wie auch die mangelnde Öffentlichkeit aufgrund der Ratifizierung in den nationalen Parlamenten mit meist großen, Parteien übergreifenden Mehrheiten beigetragen haben; was kein Zufall gewesen ist. Wenn man so verfährt, drängt sich der Verdacht auf, dass man etwas zu verbergen hat… in diesem Falle war das wohl die politische Wirkung des Vertrages, der – wie der VVE auch – weitgehend wirtschaftsliberal
geprägt ist. Die aktuelle Krise hat wohl gezeigt, dass die allenthalben geübte Kritik ihren Grund hatte. Dass sich auch Rechte und Nationalisten gegen die Europäische Einigung stellten, war und ist eher zweitranig.



Wilfried John



Demnächst: Im Teil III geht es um die Inhalte des Lissabonner Vertrags und das Für und Wider

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