Vorsicht! Buchbesprechung... José Saramago - Die Stadt der Sehenden



Vorsicht! Buchbesprechung...

Ob Saramago der aktuellen Präsident der USA kannte?


Freiheit der Meinung. Freiheit überhaupt ist eines meiner Lieblingsbegriffe. Der brasilianischer Regisseur Jorge Furtado sagte einst, im Abspann seines wunderbaren Films „Die Insel der Blumen“: » Freiheit ist das was die Träume der Menschen nährt, das keiner erklären kann und trotzdem alle verstehen.« Deswegen gibt es auch so viele Missverständnisse mit dieser Freiheit. Eine unumstrittene Formel ist wohl: Meine Freiheit endet immer an der Freiheit der Anderen. Abgeleitet auf die Freiheit der Meinung bedeutet das, dass meine persönliche Meinungsfreiheit so lange gilt, wie die Umsetzung dieser Meinung NIEMANDEM Schaden zufügt.

Oberflächlich betrachtet, beschreibt der erste Absatz eine Selbstverständlichkeit, aber wie so oft, verbergen sich unter einer allzu glatten Oberfläche Unwägbarkeiten und die sich daraus ergebenden Probleme und Konsequenzen. Dabei möchte ich den Freiheitsbegriff zunächst einmal außenvor lassen und fragen, wer festlegt wann eine geäußerte Meinung einen Schaden anrichtet und wem? Nun, die Antwort könnte lauten, selbstverständlich diejenigen, die in einer Demokratie von den Wähler*innen, durch eine freie und geheime Wahl dazu legitimiert wurden.

Was aber würde geschehen, wenn diese Legitimation fragwürdig wäre oder gar nicht erteilt würde? Wie würde sich ein Gemeinwesen, eine Gesellschaft verhalten und was würden die ehemals gewählten Institutionen machen? Wie würden sich die Einzelinteressen gegenüber den Interessen der Bevölkerung verhalten? Was würde also geschehen, wenn die Stimmberechtigten den alte Spruch der Friedensbewegung abwandeln würden und sich nach dem Motto verhielten: „Stell Dir vor wir haben Demokratie und keiner geht wählen“.

José Saramago (1928 – 2014) war ein portugiesischer Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Literaturkritiker, der sich in all seinen Werken, sei es in seinen Romanen, Erzählungen, Gedichten oder Essays, immer aus der Perspektive der einfachen Leute heraus, mit den Interessenkonflikten zwischen Arm und Reich, zwischen Machthaber und Untertan und zwischen Gottglauben und Wirklichkeit auseinander setzte. 1998 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur für sein Gesamtwerk ausgezeichnet, dessen »von Fantasie, Leidenschaft und Ironie geprägte Parabeln die Menschen die trügerische Wirklichkeit fassen lassen«.

Zum Buch: Die Stadt der Sehenden erschien im Jahre 2004 im Original unter dem Titel „Ensaio sobre a lucidez“ und er wurde im Jahr 2006 ins Deutsche übersetzt unter vorliegendem Titel in Deutschland herausgebracht. Viele wollen den Roman als Fortsetzung des Romans „Die Stadt der Blinden“ sehen, insofern Saramago einige Protagonisten dieses 1995 erschienen Werks, auch in „Die Stadt der Sehenden“ auftreten lässt. Aber ansonsten hat die Handlung in „Die Stadt der Sehenden“ mit den Ereignissen aus „Die Stadt der Blinden“ (auch von mir hier vorgestellt) nichts zu tun; es handelt sich hier um ein eigenständiges Werk. Der Plot ist für Saramagos Verhältnisse recht simpel:

In der namenlosen Hauptstadt eines nicht weiter erwähnten westlichen Landes findet ein politisches Erdbeben sein Echo: Bei den Kommunalwahlen im Lande, haben die Wähler*innen in der Hauptstadt zu über siebzig Prozent leere („weiße“) Stimmzettel abgegeben. Die Parteien und ihre Vertreter im Parlament und in der Regierung sind geschockt. Man einigt sich schließlich darauf, die Wahl zu wiederholen, wobei man als Grund das schlechte Wetter nannte, denn das war nach der Wahlordnung die einzige legale Begründung für einen solchen Schritt.

Voller Sorge aber ohne Alternative, sehen die Regierenden dem neuen Wahltermin entgegen. Am Wahltag ist sehr gutes Wetter und die Wähler*innen drängen zu den Wahllokalen. Der Andrang ist so groß, dass sich lange Schlangen bilden. Nur zur Sicherheit, hat der Geheimdienst Agenten in die Warteschlangen geschickt, die mithören sollen, ob möglicherweise Provokateure zum Weißwählen aufrufen oder ermuntern. Es gibt aber keinen Alarm und so wird der Wahlgang ausgezählt: Diesmal bleiben gut achtzig Prozent der Stimmzettel leer. Die Regierung ist mehr als irritiert… und lässt wahllos fünfhundert Bürger*innen entführen und im Keller des Innenministeriums verhören. Aber sie bekommen keine Antwort. Die Minister sind ratlos, wie der Widerstand zu brechen sei, "außer man ließe all diese Leute foltern, was, wie wir alle wissen, nicht gern gesehen wird..."

Offensichtlich hat es keine erkennbare Mobilisierung zum Weißwählen gegeben. Da dieses Debakel nur in der Hauptstadt aufgetreten ist und in den anderen Landesteilen alles normal gelaufen war, verhängt die Regierung den Belagerungszustand über die Hauptstadt und isoliert sie vom Rest des Landes. Danach beginnt die Suche nach den Schuldigen… und man nimmt es nicht so genau, notfalls genügen auch Sündenböcke. Alle Einwohner der Hauptstadt werden „durchleuchtet“ und das Denunziantentum blüht – so werden auch längst in Vergessenheit geratene Vorkommnisse wieder ans Licht gezerrt…

Die staatliche Ordnung zerfleddert, franst aus, zerfällt. Zum Macherhalt der Regierenden ist ihnen mit der Zeit jedes Mittel recht; sie schrecken auch nicht vor fingierten Bombenattentaten und Auftragsmorden zurück. Die sogenannte Ordnung, muss mit allen Mitteln wiederhergestellt werden – aber was hergestellt wird ist nicht eine Ordnung, sondern lediglich Machtstrukturen und Machausübung. Saramago entlarvt die Herrschende Klasse, die nicht »«dem Wunsch des Souveräns folgt, sondern den partiellen Interessen Einzelner, als Scheindemokraten, denen es bei Wahlen nur auf eine – wenn auch dürftige – Scheinlegitimation ankommt.

Schlussbemerkungen: Was ich gelesen habe ist Vieles, aber es ist keine (wie es viele bürgerliche Kritiker meinten) pessimistische und demokratiefeindliche Geschichte, sondern eine faszinierende, vielschichtige politische Parabel. Vielleicht ist ihm die Idee zu diesem Werk anlässlich seiner Kandidatur zu den Europawahlen 2004 gekommen, als er für die portugiesischen Kommunisten antrat und von der rechten Seite zur Abgabe leerer Stimmzettel aufgerufen wurde. Es ist der Albtraum der westlichen Demokratien, ihre Legitimation durch Wahlen zu verlieren.

Der Roman ist aber nicht nur ein politisches, sondern zeigt auch, dass das Volk, ließe man es walten, durchaus nicht in Barbarei verfiele, sondern den wahren menschlichen Kern zum Vorschein brächte: Die Solidarität. Ich teile mit Saramago die Überzeugung, dass nicht Konkurrenz und Eigennutz, sondern Solidarität und Kooperation die menschliche Natur darstellen, denn wenn es nicht so wäre, gäbe es unsere Art auf diesem Planeten längst nicht mehr. Manche Werke sind meiner Ansicht nach von einer universalen Bedeutung und lassen sich eigentlich nicht mit herkömmlichen Begriffen beschreiben. Man muss sie erleben.

Wilfried John


Die Stadt der Sehenden
José Saramago
Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Verlag: Rowohlt (17. März 2006)
ISBN-10: 3498063847
ISBN-13: 978-3498063849


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Alle meine Sklaven – Über das, was wir heute mit Sklaverei zu tun haben

Das Bedingungslose Grundeinkommen ist nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems