Wer E sagt, muss auch U sagen – Über die Verträge von Lissabon Teil III: Inhalte und Kritik
Wer E sagt, muss auch U sagen – Über die
Verträge von Lissabon
Teil III: Inhalte und Kritik
Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder,
wenn sie sich beibringen
lässt, dass ihr Heil nicht in neuen Maßnahmen, sondern in neuen
Gesinnungen besteht. Albert Schweitzer
lässt, dass ihr Heil nicht in neuen Maßnahmen, sondern in neuen
Gesinnungen besteht. Albert Schweitzer
Ausgangspunkt für diesen Artikel war ein Foren-Titel „Dieses Europa brauchen wir nicht“. Ich erwähne es deshalb, weil ich glaube, dass diese Haltung weit verbreitet ist: Einerseits ist man durchaus dafür, andererseits solle es nicht so werden. Nur warum es so nicht werden soll, darüber fehlen eigentlich inhaltliche Argumente.
In diesem Sinne möchte ich dann doch einmal
beide Seiten ausführlich darlegen; das aus meiner Sicht Gute, gegen das aus
meiner Sicht Schlechte stellen. Aber schon an dieser Stelle möchte ich sagen,
dass bei all dem Guten, dennoch das aus meiner Sicht Schlechte so gravierend wichtig
ist, dass ich diesen Vertrag als persönlich unannehmbar betrachte: Die
Lissabonner Verträge sind für die Menschen aller Länder nicht hinnehmbar, auch
wenn ich einzelnen Bestandteilen, durchaus
begeistert, zustimmen möchte, weil sie einen echten Fortschritt darstellen.
begeistert, zustimmen möchte, weil sie einen echten Fortschritt darstellen.
Da ich annehme, dass der Original-Wortlaut des
Lissabonner Vertrages weitgehend unbekannt geblieben ist, wird es leider
stimmen, dass die meisten Menschen keine Ahnung vom Inhalt haben. Nun kann man
aber keinesfalls sagen, die Informationen haben nicht zu Verfügung gestanden;
Interessierte konnten sich eine gebundene Fassung zusenden lassen oder einfach downloaden
unter:
Zunächst das Gute
Die folgende Auflistung stellt die prinzipiell
guten Veränderungen dar, wie sie der Lissabonner Vertrag beinhaltet; das
bedeutet nicht, dass es zu einzelnen Punkten nicht doch auch noch Kritik gibt.
Ich möchte hier aber auch nicht nur eine Liste aufstellen, sondern auch
stichwortartig erläutern, was die einzelnen Punkte bedeuten.
1. Europa schärft sein Profil
Mit dem Vertrag von Lissabon schärft die Europäische Union
ihre Konturen.
Ratspräsident. Neu geschaffen wird
das prominente Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, der auf zweieinhalb
Jahre gewählt ist. Er leitet die Sitzungen der Staats- und Regierungschefs. Er
ist damit Regisseur der EU-Gipfeltreffen, bei denen die wichtigsten Weichenstellungen
vorgenommen werden.
Parlamentspräsident. Der höchste
Repräsentant des Europäischen Parlaments vertritt das einzig direkt von den
Bürgern gewählte EU-Organ. Der Volksvertretung wächst in der reformierten EU
mehr Macht und Einfluss zu.
Kommissionspräsident. Dieser Posten wird
weiter aufgewertet und demokratischer legitimiert. Der Wählerwille wird zum ausschlaggebenden
Faktor bei der Besetzung, denn das Ergebnis der Europawahl fällt ins Gewicht,
wenn die Abgeordneten den
Kommissionschef wählen.
Kommissionschef wählen.
EU-Außenminister. Eingeführt wird ein
"Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik", wie
der Europa-Außenminister genannt wird. Er wird die Stimme Europas in der Welt
sein.
2. Europa wagt mehr Demokratie
Der Vertrag von Lissabon beseitigt – leider
nicht gänzlich – das Demokratiedefizit der Europäischen Union.
Gesetzgebung. In der Europäischen Union sind Bürger
und Staaten verbunden. Deshalb entscheiden das Europäische Parlament (Bürgerkammer)
und der Rat (Staatenkammer) gleichberechtigt über die europäischen Gesetze.
Wichtigster Kompetenzgewinn: Die gleichberechtigte parlamentarische
Mitentscheidung ist nun die Regel in der EU-Gesetzgebung.
Haushalt. Auch in den Haushaltsrechten wird das
Parlament weiter aufgewertet. Bisher waren Agrarausgaben der parlamentarischen Mitentscheidung
entzogen. Die Abgeordneten sollen mit entscheiden über alle EU-Ausgaben.
Demokratische Kontrolle. Erst wählen die Bürgerinnen
und Bürger ihre Abgeordneten, dann wählen diese Bürgervertreter den
Kommissions-Chef und sagen Ja oder Nein zu seiner Mannschaft. So kann die Einsetzung
der Kommission nicht mehr völlig losgelöst vom Ergebnis der Europawahl
erfolgen, Die Präsidenten von Rat und Kommission stehen dem Parlament
regelmäßig Rede und Antwort.
Bürgerbegehren. Der Vertrag von
Lissabon führt das europäische Bürgerbegehren ein. Eine Million Bürgerinnen und
Bürger aus verschiedenen Mitgliedstaaten können die Initiative ergreifen und
die Kommission auffordern, einen Vorschlag vorzulegen und damit ein Gesetzgebungsverfahren
in Gang zu setzen. Das Europäische Parlament wird einflussreicher, die
Europawahl attraktiver, die Demokratie lebendiger. Die Stimme der Bürgerinnen
und Bürger erhält mehr Gewicht.
3. Europa stärkt die Bürgerrechte
Nicht in der Form, aber in der Substanz einer
Verfassung gewährleistet der Vertrag von Lissabon Grundrechte und -werte
Europas und seiner Bürger. Damit ist die Fortentwicklung der EU von der ursprünglichen
Wirtschaftsgemeinschaft zur Wertegemeinschaft unumkehrbar.
Europäische Werteordnung. Kernbestand der
europäischen Demokratie und Kompass, an denen sich das Handeln der Europäischen
Union orientiert, sind die verbindlich festgeschriebenen Werte: Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die
Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die
Minderheiten angehören. Beitrittskandidaten werden in die EU nur aufgenommen,
wenn sie die Werte achten und fördern.
Charta der Grundrechte. Die Bürger Europas
erhalten mit dieser Charta einen der modernsten Grundrechtskataloge weltweit,
in dem alle bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte
aufgelistet werden. Die Bürger können sich vor Gericht darauf berufen.
Rechtsschutz. Der rechtliche Schutz der Bürgerinnen
und Bürger wird gestärkt. Der Europäische Gerichtshof wird nun auch zum Wächter
über die Grundrechte im Bereich der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz.
Unionsbürgerschaft. Es ist kein
Widerspruch, sich als Bürger des eigenen Landes und zugleich als Europäer zu
fühlen. Der Vertrag von Lissabon bekräftigt diese doppelte Zugehörigkeit:
"Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsangehörigkeit hinzu,
ohne diese zu ersetzen." Daran sind wichtige Rechte geknüpft, z.B. konsularischer
Schutz im Ausland, Wahlrechte auf kommunaler und
europäischer Ebene, Auskünfte der EU in der Muttersprache des Fragestellers.
europäischer Ebene, Auskünfte der EU in der Muttersprache des Fragestellers.
4. Europa gestaltet seine Zukunft
Der Vertrag von Lissabon macht die EU
handlungsfähiger. Die Beschlussfassung im Rat wird erleichtert, das Prinzip der
Einstimmigkeit auf wenige Ausnahmen beschränkt.
Mehrheitsprinzip. Die Politikbereiche,
in denen der Rat mit seinen Vertretern aus 27 Mitgliedstaaten künftig mit Mehrheit
entscheidet, werden erheblich ausgeweitet. 32 Felder quer durch die
Europapolitik kommen dazu. Beispiele sind: Europäischer Raum der Forschung, Katastrophenschutz,
Gesundheitswesen, humanitäre Hilfe, Energie oder auch Tourismusförderung.
Besonders wichtig: Die Innen- und Rechtspolitik wird weitgehend europäisch
geregelt.
Qualifizierte Mehrheit. Hier gibt es eine
Formel, welche die Zahl der Staaten und Bürger berücksichtigt. Entscheidungen
kommen ab 2014 im Rat zustande, wenn 55 Prozent der Staaten, die mindestens 65 Prozent
der Menschen in der Europäischen Union vertreten, zustimmen.
Gestaltungsmehrheit. Die neuen
Entscheidungsregeln liegen auf der "'goldenen Mitte" zwischen
Blockademöglichkeit auf der einen und Regelungswut auf der anderen Seite. Für eine
gesetzliche Gestaltung auf europäischer Ebene braucht man in der Regel eine
Mehrheit in beiden Häusern, also im Rat (Staatenkammer) und im Parlament (Bürgerkammer).
Lissabon reduziert die Fälle auf wenige Ausnahmen, in
denen einzelne Mitgliedstaaten ein Vetorecht ausüben können.
denen einzelne Mitgliedstaaten ein Vetorecht ausüben können.
5. Europa schützt die natürlichen
Lebensgrundlagen
Der Schutz des Klimas und die gesicherte
Versorgung mit Energie und Rohstoffen sind eng miteinander verknüpfte
Überlebensfragen der Menschheit am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Klimaschutz. Die Europäer wollen mit vereinten
Kräften die klimaschädlichen Treibhausgase senken, um die Erderwärmung auf ein beherrschbares
Maß zu begrenzen. Zugleich arbeitet die EU auf ein internationales
Klimaschutzabkommen hin. Durch den Vertrag von Lissabon wird erstmals auf
europäischer Ebene eine
Kompetenzgrundlage für Klimaschutz geschaffen.
Kompetenzgrundlage für Klimaschutz geschaffen.
Energieversorgung. Zugleich mit dem Schutz der Umwelt soll die Abhängigkeit von (überwiegend importierten) fossilen Brennstoffen verringert und der Anteil an erneuerbaren Energien beträchtlich erhöht werden. Die Europäer verfügen über ein hohes Potenzial, um Energie zu sparen, effizienter einzusetzen oder alternativ zu erzeugen. Durch den neuen Vertrag erhält die EU neue Kompetenzen für eine europäische Energiepolitik. Im Falle gravierender Lieferengpässe bei der Energieversorgung können einzelne Mitgliedstaaten auf die Solidarität aller EU-Länder zählen.
6. Europa schützt die Bürger
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten nicht nur
von ihrem eigenen Land, sondern auch von der Europäischen Union wirkungsvolle
Beiträge zu ihrem Schutz.
Mehr Sicherheit. Der Vertrag gibt der
EU die Werkzeuge für eine effiziente Zusammenarbeit von Polizei und Justiz an
die Hand. Europa schafft einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts. Das Europäische Parlament erhält in diesem Bereich volle Kompetenzen.
Europol. Der Vertrag öffnet den Weg, die europäische Polizeibehörde
Europol zu einem handlungsfähigen Knotenpunkt im europäischen Fahndungsnetz
auszubauen. Eine europäische Staatsanwaltschaft kann eingerichtet werden.
Außengrenzen. Im Gegenzug zur
völligen Öffnung der Binnengrenzen wird eine verstärkte Kontrolle an den
Außengrenzen eingeführt.
7. Europa spricht mit einer Stimme
An einer gemeinsamen europäischen Außen- und
Sicherheitspolitik führt kein Weg vorbei.
Europas Stimme. Europa wird
handlungsfähiger, um Konflikte in der Welt friedlich zu lösen. Die EU will
wirkungsvolle Beiträge leisten für Frieden, Sicherheit und globale nachhaltige
Entwicklung. Beim europäischen Außenminister werden künftig die Fäden
zusammenlaufen. Unterstützt wird er dabei von einem diplomatischen Dienst.
Solidarität. Zu Europa zu gehören, bedeutet auch, in
der Not nicht allein gelassen zu werden. Falls ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag
oder einer Naturkatastrophe betroffen ist, mobilisiert die Europäische Union
solidarische Hilfe und Unterstützung. Diese Beistandsgarantie gilt auch im
Falle eines militärischen Angriffs.
8. Europa erleichtert den Durchblick
Die Verfassung hätte ein neues Schnittmuster
mit klaren Linien gebracht. In der Änderungsschneiderei von Lissabon musste man
sich mit weniger zufrieden geben.
Ziele. Die Europäische Union richtet ihr Handeln an
verbindlichen Zielen aus. Der Vertrag von Lissabon stellt dafür einen
Zielkatalog bereit. Zu diesen Zielen gehört unter anderem das
Gestaltungsprinzip der "nachhaltigen Entwicklung", das für Europa und
im globalen Maßstab gilt.
Transparenz. Die Bürgerinnen und Bürger können in
Zukunft leichter nachvollziehen, wie Gesetze entstehen. Die im Rat versammelten
Minister dürfen im Gesetzgebungsverfahren nicht mehr hinter verschlossenen
Türen tagen. Das Europäische Parlament debattiert selbstverständlich
öffentlich. Beide Organe entscheiden in der Regel gleichberechtigt.
Aufgabenverteilung. Europa wird
verständlicher, weil die Aufgaben zwischen den Mitgliedstaaten und der EU klar
verteilt werden. Es wird im Vertrag Punkt für Punkt aufgeführt, wo die EU
allein handelt (ausschließliche Zuständigkeit), arbeitsteilig mit den
Mitgliedstaaten vorgeht (geteilte Zuständigkeit) oder nur unterstützend tätig
wird.
9. Europa wahrt nationale Eigenständigkeit
Die Europäische Union achtet die jeweilige
nationale Identität, einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung.
Die EU wird sich nicht als eine Art Superstaat selbständig etablieren können.
Einheit in Vielfalt. Die Europäische Union,
so garantiert der Vertrag von Lissabon, "wahrt den Reichtum ihrer
kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die
Entwicklung des kulturellen Erbes Europas".
Prinzip der Subsidiarität. Nach diesem Grundsatz sind Entscheidungen immer auf der bürgernächsten politischen Ebene zu treffen, die zur Problemlösung in der Lage ist. Also: Erst die Stadt, dann Land und Mitgliedstaat, schließlich Europa. Auf europäischer Ebene darf also nur geregelt werden, was kleinere Einheiten überfordert und auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist.
Subsidiaritätsrüge. Der Vertrag von Lissabon weist den nationalen Parlamenten eine Schlüsselrolle zu, um die Einhaltung der Subsidiarität zu kontrollieren. Sie können in einem frühen Stadium vor einer Gesetzesinitiative warnen, falls Brüssel unberechtigt Kompetenzen an sich ziehen will. Diesem Kontrollrecht kann durch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof Nachdruck verliehen werden.
10. Europa verbindet Bürger und Staaten
Die europäische Einigung bedeutet, dass die EU
und ihre Mitgliedstaaten loyal zusammenarbeiten und sich gegenseitig bei der
Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen. Die EU ist eine Solidargemeinschaft,
aber keine geschlossene Gesellschaft: Sie bleibt offen für Ein- und Austritte.
Der Vertrag von Lissabon übernimmt die bisherigen Regeln für die Aufnahme neuer
Staaten. Neu sind hingegen Bestimmungen über den Austritt eines Landes, das
nicht mehr in der EU sein will.
Nun die Kritik
Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass der
Lissabonner Vertrag nicht nur – wie offiziell immer behauptet wird – aus zwei
Teilen (1.und 2.) besteht, sondern er besteht genau genommen aus drei Teilen
(weil in den Protokollen und Anhängen auch so einiges enthalten ist, das rechtliche
und politische Wirkung entfaltet):
1. Vertrag über die Europäische Union
2. Vertrag über die Arbeitsweise der
Europäischen Union
3. Die zum Vertrag gehörenden Protokolle und
Anhänge
Diese Vorbemerkung war deswegen nötig, weil im
folgenden Text auf alle drei Bereiche Bezug genommen wird… in der offiziellen
Berichterstattung aber so gut wie nie auf die Protokolle eingegangen wird.
Grundsätzliches. Der Vertrag von
Lissabon wird den Erfordernissen die Rahmenbedingungen für das friedliche,
gleichberechtigte Zusammenleben der Menschen auf dem europäischen Kontinent zusetzen
und von den Bürgerinnen und Bürgern legitimiert zu sein, in keiner Weise
gerecht. Es handelt sich weder um eine Verfassung, noch begründet dieser
Vertrag eine demokratische, soziale, ökologische und den Frieden sichernde
Europäische Union. Wesentliche vertragliche Regelungen sind nicht geeignet, zur
Lösung der vielen drängenden Probleme der Gegenwart beizutragen und den
Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Die Fehlentwicklungen der
Europäischen Union werden durch den Vertrag von Lissabon trotz einer Reihe
positiver Veränderungen gegenüber dem Vertrag von Nizza festgeschrieben und zudem
in entscheidenden Politikbereichen noch verschärft.
Da der Vertrag von Lissabon die Substanz des
EU-Verfassungsvertrags nahezu unverändert übernahm, wird von den Kritikern die
bereits zum Verfassungsvertrag geäußerte Kritik auch gegenüber dem Vertrag von Lissabon
aufrecht erhalten. Der frühere Präsident des Verfassungskonvents Valery Giscard
D’Estaing erklärte, dass der Vertrag von Lissabon nur „kosmetische“ Änderungen
vornehme und die Inhalte
des EU-Verfassungsvertrags lediglich anders darstelle, um diese „leichter verdaulich“ zu machen und neue Referenden zu vermeiden. Hinzu kommt, dass der Vertrag in seiner neuen Form komplizierter aufgebaut und schwerer verständlich ist als der Verfassungsentwurf, was von Kritikern als gezielte Täuschung der Bürger verstanden wurde.
des EU-Verfassungsvertrags lediglich anders darstelle, um diese „leichter verdaulich“ zu machen und neue Referenden zu vermeiden. Hinzu kommt, dass der Vertrag in seiner neuen Form komplizierter aufgebaut und schwerer verständlich ist als der Verfassungsentwurf, was von Kritikern als gezielte Täuschung der Bürger verstanden wurde.
Zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ kann
man natürlich stehen wie man möchte; ich persönlich bin ein Verfechter des
föderalen Rechtsstaats-Prinzips, weil das besser vor allzu großer
Machtanhäufung einer Zentrale schützt. Schon der VVE war keine echte Verfassung
im klassischen Sinne, aber der VVE war „auf dem Weg“ des föderalistischen
Europa; im Sinne einer bundesstaatlichen Ordnung (siehe im Teil I Vom Parlament
zum Konvent – Churchill). Der Vertrag von Lissabon schneidet diesen Weg (bis zu
einem wohl sehr fernen Tag) förmlich ab.
Demokratisierung. Wie oben dargestellt,
werden zwar mit dem Vertrag demokratische Strukturen gestärkt, dennoch bleiben
in den Augen der Kritiker wichtige Aspekte des institutionellen Demokratiedefizits
der EU ungelöst. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht bewertet den
Vertrag von Lissabon zurückhaltend: Er führe die Union nicht auf eine neue
Entwicklungsstufe der Demokratie.
Allgemein kritisiert werden unter anderem:
Ø
die
weiterhin nur indirekte demokratische Legitimation der EU-Kommission,
Ø
die
Beibehaltung der degressiven Proportionalität bei der Sitzverteilung im
Europäischen Parlament, in der ein Verstoß gegen das Prinzip der Wahlgleichheit
gesehen wird (darauf begründet, wird das Europaparlament als Repräsentation
lediglich der verschiedenen europäischen Völker und nicht eines einheitlichen
Volkswillens bezeichnet)
Ø
das
weiterhin fehlende Initiativrecht des Parlaments für eigenständige Gesetzesvorlagen,
Ø
die
weiterhin fehlenden Zuständigkeiten des Parlaments in der Außen- und
Sicherheitspolitik,
Ø
die
(trotz des neu eingeführten Kompetenzkatalogs) unklare Kompetenzverteilung
zwischen nationalen und europäischen Institutionen.
Kritisiert wurde auch
eine angebliche Beschönigung der demokratischen Verhältnisse durch den
Vertragstext. So heißt es in EUV Art 14 Abs. 1, dass das Parlament den
Präsidenten der Kommission „wählt“; aus EUV Art 17 Abs. 7 geht jedoch hervor,
dass diese Wahl auf Vorschlag des Europäischen Rats stattfindet: Das Parlament
kann den vom Europäischen Rat genannten Kandidaten zwar ablehnen, jedoch keinen
eigenen Vorschlag einbringen.
Grundausrichtung der EU
an neoliberalen Politikmaßstäben. Zwar wurde unter den Zielen der EU der Passus
„Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ gestrichen; zugleich
wurde jedoch ein Protokoll über die Sicherstellung eines freien und
unverfälschten Wettbewerbs vereinbart, sodass diese Änderung lediglich
symbolischen Wert hatte. Die EU bekennt sich im Vertrag von Lissabon nicht zur Sozialstaatlichkeit,
ohne die aber die im Vertrag proklamierte Demokratie und Rechtstaatlichkeit auf
tönernen Füßen stehen.
Der Vertrag unterwirft
die Wirtschaftspolitik uneingeschränkt dem neoliberalen Dogma "einer
offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" und stellt die in Artikel 3
als Ziel postulierte "soziale Marktwirtschaft" unter den Vorbehalt
der Wettbewerbsfähigkeit. Zugleich wird an der vorrangigen Ausrichtung der
Währungspolitik auf Preisstabilität, am Stabilitätspakt und an der fehlenden
demokratischen Kontrolle der Europäischen Zentralbank festgehalten. All dies
führt zu Behinderungen staatlicher Konjunktur-, Struktur- und Regionalpolitik,
so
durch rigide Stabilitätsanforderungen an die öffentlichen Haushalte und die Unterwerfung der Einrichtungen der Daseinsvorsorge unter das EU-Wettbewerbsrecht.
durch rigide Stabilitätsanforderungen an die öffentlichen Haushalte und die Unterwerfung der Einrichtungen der Daseinsvorsorge unter das EU-Wettbewerbsrecht.
Eine neoliberal
ausgerichtete Europäische Union ist nicht im Sinne der überwiegenden Mehrheit
der hier lebenden Menschen. Zudem hat sich inzwischen gezeigt, dass die sich
vorrangig um die Profite der internationalen Konzerne und des Finanzkapitals
kümmernde Politik und die Politik des „Schwachen Staates“ gescheitert ist. Es
gibt aus der Sicht der arbeitenden Menschen keine Alternative zur sozialen
Ausrichtung der Europäische Union, in der die Bedürfnisse der Bürgerinnen und
Bürger im Mittelpunkt stehen – mit eindeutigen arbeitsrechtlichen und sozialen Regelungen
und Mindeststandards, um Lohn- und Sozialdumping innerhalb der EU zu beenden.
So bleibt die Forderung nach einer sozialstaatlichen Zielbestimmung im
EU-Vertrag, dem Sozialstaatsgebot, unerfüllt.
Grundrechte. Ein Kritikpunkt in der
öffentlichen Diskussion bildete die Ansicht, dass die Charta der Grundrechte
die Wiedereinführung der Todesstrafe auch in Ländern mit einem absoluten Verbot
(z. B. Deutschland oder Österreich) ermögliche. Dieser Vorwurf ging darauf zurück,
dass es in Art. 2 Abs. 2 der Charta zwar heißt, niemand dürfe zur Todesstrafe
verurteilt oder hingerichtet werden, aber die als Interpretationshilfe
dienenden und rechtlich nicht verbindlichen Erläuterungen zur Charta der
Grundrechte dieses Verbot im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention
auslegen, welche im Wortlaut des 6. Zusatzprotokolls u. a. die Todesstrafe im
Kriegszustand und eine Tötung zur Niederschlagung eines Aufruhrs erlaubt.
Die große Mehrheit der
EU-Mitgliedstaaten (darunter auch Deutschland und Österreich) hat jedoch
bereits das 13. Zusatzprotokoll zur Europäischen
Menschenrechtskonvention
vom 3. Mai 2002 ratifiziert, welches die Todesstrafe ausnahmslos sowohl in Friedenszeiten
als auch für Kriegszeiten verbietet. Durch die Auslegungsregel in Art. 52 Abs.
3 und den Art. 53 der Charta darf der Grundrechteschutz durch die Charta in
keinem Fall niedriger sein als derjenige, der durch andere gültige Rechtstexte,
insbesondere die Verfassungen der Mitgliedstaaten oder internationale
Übereinkommen wie die Europäische
Menschenrechtskonvention, garantiert wird. Die Charta kann also nur neue Grundrechte einführen, nicht den bereits bestehenden Grundrechteschutz verringern.
Menschenrechtskonvention, garantiert wird. Die Charta kann also nur neue Grundrechte einführen, nicht den bereits bestehenden Grundrechteschutz verringern.
Die EU-Grundrechtecharta
wird durch Artikel 6 Abs.1 des geänderten EU-Vertrags für rechtsverbindlich
erklärt; was aber für Kritiker keine Alternative für die direkte Aufnahme des
Charta-Textes in den Lissabonner Vertrag ist. Kritikwürdig ist es auch, dass
keine der in den vergangenen Jahren in den Mitgliedsländern diskutierten
inhaltlichen Ergänzungen oder Änderungen an der Grundrechtecharta vorgenommen wurden.
Auch hier wird wieder die „Wirtschaftslastigkeit“ offenbar: So wird es weder
ein vertraglich garantiertes Recht auf Arbeit noch ein grenzüberschreitendes
Streikrecht geben. Ein Grundrecht auf unternehmerische Freiheit aber bleibt
verankert.
Militär- und
Sicherheitspolitik.
Einen gewichtigen Teil der Neuerungen gegenüber den jetzt gültigen Verträgen
machen Bestimmungen zur Militär- und Sicherheitspolitik aus. Durch sie soll die
vertragliche Grundlage geschaffen werden, um die EU nun auch zu einer globalen
Militärmacht aufrüsten zu können, die weltweit Militärinterventionen und
Kampfeinsätze durchführen kann. Ausdrücklich begründet der Vertrag eine
Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, "ihre
militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Die Einrichtung einer "Europäischen Verteidigungsagentur" als Instrument zur "Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung" und "zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" wird ebenso vertraglich festgeschrieben.
militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Die Einrichtung einer "Europäischen Verteidigungsagentur" als Instrument zur "Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung" und "zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" wird ebenso vertraglich festgeschrieben.
Zugleich wird für
militärisch besonders "anspruchsvolle" Mitgliedsstaaten die Möglichkeit
eröffnet, sich gesondert in einer "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit"
zusammenzuschließen, über deren etwaige Erweiterung allein die teilnehmenden
Staaten entscheiden. Damit wird ein militärisches Kerneuropa geschaffen, das
dem Gründungskonsens der europäischen Integration widerspricht.
Gleichzeitig werden weltweite Kriege gerechtfertigt. Sogar ein eigener
EU-Militärhaushalt wird etabliert. Für weltweite Militäroperationen werden
"EU-battle groups" aufgebaut. Zudem wird die EU-Sicherheitspolitik
eng an die
NATO und die USA gebunden.
NATO und die USA gebunden.
Das ist eine fast
ausschließlich militärisch definierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Zugleich aber bleiben die Kompetenzen im Bereich der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik bei den Mitgliedstaaten. Trotzdem könnten
parlamentarischen Kontroll- und Entscheidungskompetenzen eingeschränkt werden:
das Europäische Parlament wird über die Maßnahmen im Bereich der Sicherheits-
und Verteidigungspolitik lediglich informiert; die Rechte z.B. des Deutschen Bundestages
(die Deutsche Bundeswehr ist eine sog. Parlamentsarmee) drohen ausgehebelt zu
werden.
Der Vertrag verliert
kein Wort zu einer Europa-Politik der Abrüstung, der Friedenssicherung und der
internationalen Kooperation. Wir als Deutsche müssten schon allein moralisch
die Pflicht haben ein ausdrückliches Verbot von Angriffskriegen zu verlangen,
wenn es weiter stimmen soll, dass nie wieder ein Krieg von Deutschem Boden
ausgehen soll. Dazu gehört auch die Verpflichtung zur strikten Bindung an die
UN-Charta und zur Einhaltung der international anerkannten Völkerrechtsnormen.
Innen- und
Justizpolitik.
Die "gemeinsame" Asyl- und Einwanderungspolitik mit einem
"integrierten Grenzschutzsystem", einer "wirksamen Überwachung
des Grenzübertritts an den Außengrenzen" und einer "wirksamen
Steuerung der Migrationsströme" zielen auf eine EU-einheitliche
restriktive Flüchtlings- und
Einwanderungspolitik. Durch eine Klausel wird sogar der Einsatz von Militär im Inneren ermöglicht. Statt mehr Sicherheit bedeutet diese neue Macht der EU vor allem weniger Grundrechte und Demokratie für die Bürgerinnen und Bürger. Einer repressiven Asyl- und Migrationspolitik – wie sie bereits seit langem von vielen Ländern praktiziert wird – droht nun auch EU-weit Tür und Tor geöffnet zu werden. Die Politik einer "Festung Europa" soll vertraglich abgesichert werden.
Einwanderungspolitik. Durch eine Klausel wird sogar der Einsatz von Militär im Inneren ermöglicht. Statt mehr Sicherheit bedeutet diese neue Macht der EU vor allem weniger Grundrechte und Demokratie für die Bürgerinnen und Bürger. Einer repressiven Asyl- und Migrationspolitik – wie sie bereits seit langem von vielen Ländern praktiziert wird – droht nun auch EU-weit Tür und Tor geöffnet zu werden. Die Politik einer "Festung Europa" soll vertraglich abgesichert werden.
Zum Schluss
Während der Wirtschaft
– unter dem Schlagwort Freiheit – Tür und Tor geöffnet werden, sollen die
Arbeitnehmer derselben Freiheit schutzlos ausgeliefert werden. Schon Rousseau
sagte: Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die
unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Insofern nutzt z.B. ein zarter
Hinweis auf die Europäische Sozialcharta (TITEL X Sozialpolitik) wenig.
Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und (grenzüberschreitendes) Streikrecht
gehören ausdrücklich garantiert.
Würden die
entsprechenden politischen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der
neoliberale (Un-)Geist wieder in die Flasche muss, aus der ihn die (Groß-) Bürgerlichen
vor über zwei Jahrzehnten herausließen, wären die Verträge für mich annehmbar.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin ein überzeugter Europäer und
die organisatorischen Änderungen, die im Vertrag enthalten sind, sind für mich
kein Problem.
Aber es ist kein Geheimnis,
dass mir die, noch im neoliberalen Geist verfassten, Lissabonner-Verträge
dennoch ein Dorn im Auge sind; es geht um die politische Grundausrichtung. Ich
will ein Europa, das seine ureigenste Erfindung – den Sozialstaat – nicht sang-
und klanglos aus dem Schriftstück streicht, das einmal die Verfassung eines
vereinten Europa werden KÖNNTE. Angesichts der aktuellen Krise (die wegen all der
Deregulierungen so dramatisch groß wurde), muss man feststellen: Die Zeit ist
über die Lissabonner Verträge hinweg gegangen und hat sie klein getrampelt. Sie
sollten nun, unter Berücksichtigung der "neuen Erkenntnisse",
gründlich überarbeitet werden. Dazu müssen sie allerdings erst einmal
scheitern... und eine Chance dazu haben sie noch.
Wilfried John
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